September 2023 | Autorin: Masooma Torfa, Doktorandin an der Universität Hohenheim
Afghanische Geflüchtete und ihre Herausforderungen in Deutschland
Die afghanische Bevölkerung war gezwungen, in verschiedene Länder der Welt zu migrieren. Die Gründe dafür waren die sowjetische Invasion im Jahr 1979, zivile und gewaltsame Konflikte, Terroranschläge und der Krieg der Taliban in den 1990er Jahren. Im Jahr 1990 stellten die Afghanen mit 6,22 Millionen den höchsten Anteil an der Flüchtlingsbevölkerung in der Welt dar (Monsutti, 2008) [1]. Die Intervention der internationalen Koalition unter Führung der USA Ende 2001 weckte jedoch die Hoffnung auf Frieden und löste eine außergewöhnliche Rückkehrwelle nach Afghanistan aus, in deren Verlauf mehr als fünf Millionen Afghanen zurückkehrten, vor allem aus den Nachbarländern Pakistan und Iran (Monsutti, 2008).
Rund 7 % aller afghanischen Geflüchteten sind in Europa untergebracht, hauptsächlich in Deutschland, Österreich und Schweden (MMC, 2020) [2]. Die Grafik 1 zeigt die Anzahl der afghanischen Asylbewerber im Zeitraum von 2014-2021. Afghanen waren nach Syrern die zweitgrößte Gruppe von Asylbewerbern in der Europäischen Union (EU) und wurden deshalb als die zweitgrößten Verursacher der „Flüchtlingskrise“ angesehen.
Der gewaltsame Konflikt während der Präsenz der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan und die Übernahme Afghanistans durch die Taliban im August 2021 hat zu einem starken Anstieg der Anzahl interner und internationaler Zwangsmigrationen von Afghanen geführt, wie es derzeit zu beobachten ist.
Die Grafik 2 zeigt, dass mit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im August 2021 auch die Anzahl der afghanischen Asylbewerber in der EU anstieg. Genau ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban, von August 2021 bis August 2022, haben 127.000 Afghanen in den EU+ Ländern Asyl beantragt. Im August 2022 haben 12.100 Afghanen in der EU Asyl beantragt, was einem Anstieg von 30 % im Vergleich zum Juli desselben Jahres entspricht [3]. Nach Berichten vom UNHCR waren im Jahr 2020 45 % aller auf dem Seeweg in Griechenland ankommenden asylsuchenden Afghanen, davon waren es 42 % Frauen und Kinder. Darüber hinaus haben im Jahr 2020 44.000 Afghanen einen Asylantrag in der EU gestellt, womit Afghanen die zweitgrößte Anzahl von Erstantragstellern in der EU waren (Eurostat, 2021).
Auch die Anzahl der unbegleiteten Minderjährigen aus Afghanistan stiegen weiter an. Fast 2.300 unbegleitete Minderjährige aus Afghanistan haben in der EU+ einen Asylantrag gestellt, was Berichten zufolge die Hälfte aller unbegleiteten Minderjährigen in der EU ausmacht und im Vergleich zum Juli einen Anstieg von 40 % und den höchsten Stand seit Dezember 2015 bedeutet [4].
Die großen Herausforderungen für afghanische Geflüchtete in Deutschland
Europäische Länder, darunter auch Deutschland, haben in den letzten Jahren versucht, die Zahl der afghanischen Asylbewerber durch restriktive politische Maßnahmen zu verringern. So wurde beispielsweise im Oktober 2016 der Joint Way Forward for Afghanistan (JWFA) geschlossen, der die Rückkehr von Afghanen aus der EU nach Afghanistan erleichtern sollte. Sie wurde im April 2021 durch eine strengere Vereinbarung, die Gemeinsame Erklärung zur Migrationszusammenarbeit (JDMC), ersetzt. Hinzu kommen die Schließung der Westbalkanroute und die Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei sowie eine zunehmend unfreundliche Politik für Afghanen (Ruttig, 2017)[5] oder die ständige Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern trotz der unsicheren Lage.
Afghanen bleiben jedoch bei ihrer Migration nach Deutschland, trotz der geringen Chancen auf Anerkennung sowie der Bedrohung der ständigen Abschiebungen nach Afghanistan in den vergangenen Jahren vor dem Zusammenbruch der afghanischen Regierung im Jahr 2021.
Im Folgenden werden einige der größten Herausforderungen für afghanische Geflüchtete in Deutschland erläutert:
1- Die niedrige Anerkennungsquote
Die Anerkennungsquote für afghanische Geflüchtete in Deutschland ist stetig gesunken: von 72 % im Jahr 2015, auf 55 % im Jahr 2016, auf 47 % im Jahr 2017 und nur 27 % der Afghanen erhielten im Jahr 2021 Flüchtlingsschutz (siehe ECRE-Statistiken, 2017 & 2021)[6]. Die Anerkennungsquote für afghanische Asylbewerber in der EU und in Deutschland stieg im Oktober und November 2021 auf etwa 90 %, was auf die in der EU ankommenden afghanischen Geflüchteten zurückzuführen ist. Sie ging jedoch weiter zurück und erreichte im August 2022 44%.
„Ich lebe seit sieben Jahren in Stuttgart und ich habe immer noch eine Duldung. Es gibt viele Freunde von mir, denen es genauso geht. Wir können in der Nacht nicht richtig schlafen…“ Afghane, männlich, Stuttgart, Deutschland
„Viele Afghanen leben seit Jahren in Deutschland in einem Zustand der Unsicherheit und Unklarheit über ihre Asylanträge. Wir bitten die Bundesregierung, diese Menschen, die aufgrund der aktuellen Situation in Afghanistan über ihr Schicksal im Unklaren gelassen werden, zu schützen und ihnen Klarheit zu verschaffen“ Afghanischer Berufsausbilder – Außenhandelsmanagement, Frankfurt
„Die Ungewissheit macht uns krank. Seit sieben Jahren leben wir nun in Deutschland. Wir wissen nicht, ob und wann wir zurückgeschickt werden. Wir haben vor kurzem eine Wohnung gefunden und sind aus dem Lager ausgezogen, aber meine Mutter hat Angst, dass irgendwann die Polizei kommt, uns mitnimmt und uns zurückschickt.“ Afghanin, Stuttgart, Deutschland
Die unsichere Lage ist nicht nur auf afghanische Asylbewerber in Deutschland beschränkt. Es gibt viele Afghanen, die Anspruch auf ein deutsches Visum haben, aber hinter den Türen der deutschen Botschaften in den Nachbarländern Afghanistans warten. Dazu gehören Antragsteller auf Familienzusammenführung, afghanischen Ortskräfte, die mit Deutschen in Afghanistan gearbeitet haben, Studenten und Menschenrechtsaktivisten oder Frauenrechtsaktivisten.
„Deutschland hat derzeit keine funktionierende Botschaft in Afghanistan. Tausende von afghanischen Familienangehörigen, Studenten und Aktivisten warten unter sehr schwierigen und unsicheren Bedingungen hinter den Türen der deutschen Botschaften in und außerhalb von Afghanistan auf ein Visum. Deutschland sollte schnellstmöglich ein effektiveres System für diejenigen schaffen, die für ein Visum in Frage kommen.“ Afghane, Ingenieur, Stuttgart, Deutschland
2-Diskriminierung
Die Benachteiligung afghanischer Geflüchteter in Europa ist ein Problem, das nicht nur von Afghanen in verschiedenen Ländern angesprochen wird, sondern auch von einigen internationalen Organisationen und Flüchtlingsrechtsorganisationen wie dem International Rescue Committee [7] und dem European Council on Refugees and Exiles (ECRE)[8].
„Wir stellen fest, dass Menschen mit der gleichen Geschichte und der gleichen Situation einen unterschiedlichen Schutzstatus erhalten oder sogar abgelehnt werden, was sich sehr diskriminierend anfühlt. Ich kenne viele aus Afghanistan, die trotz guter deutscher Sprachkenntnisse und Integration in einer sehr schwierigen Situation sind. Das BAMF scheint im Asylverfahren zu würfeln und wer sollte das verhindern?“ Afghanische Abiturientin, Stuttgart
Die Diskriminierung von Afghanen in Deutschland wurde von deutschen Medien, rechtsgerichteten Politikern und einigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vermutlich noch verstärkt. Zum Beispiel scherzte der deutsche Innenminister Horst Seehofer im Juli 2018, dass an seinem 69. Geburtstag 69 Personen aus Afghanistan abgeschoben worden seien. Die folgende Aussage Seehofers wird von BBC berichtet.
„Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag – und ich habe das nicht angeordnet – wurden 69 Menschen nach Afghanistan zurückgeschickt“, sagte Seehofer. „Das liegt weit über dem bisher üblichen Niveau.“[9]
Dieser Witz wurde von vielen afghanischen Mitbürgern in Deutschland kritisiert und als enttäuschend, unmenschlich und gegen die Menschen- und Flüchtlingsrechte der schutzbedürftigen Menschen verstanden. Nachfolgend ein Zitat eines afghanisch-deutschen Bürgers zu den Äußerungen von Minister Seehofer:
„Es war unfassbar zu hören, dass Minister Seehofer an seinem Geburtstag die Abschiebung von Afghanen feierte. Noch enttäuschender ist es, solche Worte von einem deutschen Beamten oder jemandem in der Position eines Ministers zu hören, der Hass gegen die Menschen eines Landes verbreitet. Er könnte wenigstens etwas respektvoller sein…“ Afghanisch-deutscher Staatsbürger, Stuttgart, Deutschland
3- Psychologischer Druck
„Langwierige Asylverfahren, kein Anspruch auf Integrationskurse und immer mehr ungerechtfertigte Ablehnungen durch das BAMF führen bei Afghanen zu schweren Depressionen und psychischen Erkrankungen, die das Leben der afghanischen Geflüchteten in einer anderen Form bedrohen. Ich finde es schade, dass Deutschland durch Fehleinschätzungen des Potentials die Chance auf eine gute Integration verliert“ Afghanischer IT-Auszubildende, Stuttgart, Deutschland
Wissenschaftliche Untersuchungen von Walther, Kröger, Tibubos et al. (2020) [10] über die psychische Belastung von Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan, Irak und Eretria zeigen, dass Afghanen im Vergleich zu anderen Nationalitäten am stärksten unter mittlerer und schwerer Belastung leiden. Die Häufigkeit des Leidensdrucks ist bei alleinstehenden Männern höher als bei denen, die mit ihrer Kernfamilie zusammen sind, und diejenigen mit einem unsicheren legalen Aufenthaltsstatus erfahren einen höheren Leidensdruck als diejenigen mit einem geschützten Status. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass psychische Belastungen die Integration von Flüchtlingen negativ beeinflussen und ihre Chancen auf einen Arbeitsplatz verringern.
Unten finden Sie ein weiteres Zitat eines afghanischen Flüchtlings über seine psychische Situation in Deutschland:
„Seit mehreren Jahren verbringen Afghanen ihr Leben in schrecklichen Situationen in Asylunterkünften, hilflos und ohne Bleiberecht. Die meisten von ihnen haben psychische Probleme, da sie mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Die Asylverfahren hätten schneller durchgeführt werden müssen. Man hätte ihnen das Recht geben müssen, sich im Land zu etablieren. Man sieht aber das Gegenteil.“ Afghanischer Asylbewerber, Stuttgart, Deutschland
Die Herausforderungen wie die niedrige Anerkennungsquote, die Umsetzung der Dublin-Verfahren und die unsicheren Aufenthaltstitel führen zu verschiedenen anderen Problemen wie dem geringen Zugang zu Integrationseinrichtungen, psychologischen Problemen und Spannungen, was den gesamten Integrationsprozess in den neuen Gesellschaften deutlich erschwert.
Autorin: Masooma Torfa, Doktorandin an der Universität Hohenheim, Stuttgart, Deutschland
Datum: September 2022
Grafik 1: Anzahl der afghanischen Asylbewerber in der EU (2014-2021)
[1] Monsutti, A. (2008). Afghan migratory strategies and the three solutions to the refugee problem. Refugee Survey Quarterly, 27(1), 58–73. https://doi.org/10.1093/rsq/hdn007
[2] MMC. (2020). Destination Unknown Afghans on the move in Turkey. June.
Grafik 2: Afghanische Asylanträge in der EU (März 2021 bis Februar 2022)
[3] euaa, available under: https://euaa.europa.eu/latest-asylum-trends-asylum#afghanistan
[4] euaa, available under: https://euaa.europa.eu/latest-asylum-trends-asylum#afghanistan
Grafik 3: Anteil der positiven Asylentscheidungen für Afghanen in der EU
[5] Ruttig, T. (2017). Pressure and Peril : Afghan refugees and Europe in 2017. Afghanistan Analysts Network, December, 1–13.
[6] ECRE analysis of asylum statistics available under: https://ecre.org/ecre-analysis-of-asylum-statistics-in-europe/, accessed on 10.10.2022
[7] IRC, available under: https://www.rescue.org/uk/resource/afghan-refugees-and-european-refugee-crisis?gclid=Cj0KCQiA1NebBhDDARIsAANiDD0niHP6CKzGwzxjKq_Xb0iUh3lpXy_0PFHxnzPUUYD39kaG593Re0kaAsIyEALw_wcB accessed on 17.08.2022
[8] Euronews, available under: https://www.euronews.com/my-europe/2022/08/15/five-infographics-to-show-impact-of-taliban-takeover-on-europe
[9] BBC News, available under: https://www.bbc.com/news/world-europe-44778737, accessed on December 2022
[10] Walther L, Kröger H, Tibubos AN, et al. Psychological distress among refugees in Germany: a cross-sectional analysis of individual and contextual risk factors and potential consequences for integration using a nationally representative survey. BMJ Open 2020;10:e033658. doi:10.1136/ bmjopen-2019-033658
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